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Gender Curriculum Chemie

Weiter relevant für: Lehramt Chemie, Ökologie

Fach: Chemie
Fächergruppe/n: Mathematik und Naturwissenschaften

Lehrziele:

Die Studierenden sollen einen Überblick über die Bedeutung der Geschlechterverhältnisse für die Entwicklung der Chemie sowie für den gesellschaftlichen Umgang mit ihren Produkten, den Chemikalien, erhalten. Sie sollen befähigt werden, die postulierte Geschlechtsneutralität der Chemie kritisch zu hinterfragen. Darüber hinaus sollen sie ein Verständnis von Genderanalysen als "Eye-Opener" für die Einbindung der Chemie in gesellschaftliche Handlungskontexte erwerben.

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Lehrinhalte/fachspezifische Inhalte der Geschlechterforschung:

Die Geschlechterforschung in der Chemie fragt nach den Wechselbeziehungen zwischen den Geschlechterverhältnissen und der Entwicklung der Chemie. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie sich die Geschlechterverhältnisse auf das Wissen und die Produkte, die in der Chemie produziert werden, sowie auf die Forschungs- und Entwicklungsrichtungen, die von ihr verfolgt werden, auswirken. Der Fokus auf die Kategorie Geschlecht lenkt den Blick auf den gesellschaftlichen Kontext, in dem chemische Fragestellungen und Entwicklungen stehen, und hinterfragt das insbesondere in der Scientific Community anhaltend wirkmächtige Selbstverständnis der Chemie als wertneutrale und objektive Naturwissenschaft (Weller 1995, Weller 2006, Weller 2012).  

Die Chemie weist in diesem Zusammenhang eine Besonderheit auf: Auf der einen Seite ist das Geschlechterverhältnis in den chemischen Studiengängen beinahe ausgeglichen (s.u.), auf der anderen Seite stehen im Vergleich zu anderen Naturwissenschaften wie der Biologie noch kaum fundierte inhaltliche Analysen zur Verfügung, wie und mit welchen Ergebnissen Gender sich in die Fragestellungen, Modelle, Konzepte und Methoden der Forschung einschreibt. Diese Wenigen beziehen sich zudem eher auf Teildisziplinen der Chemie wie die physikalische Chemie und insbesondere die Umweltchemie (Bauer 2010). Umweltchemische Fragen richten sich auf den gesellschaftlichen Umgang mit Chemikalien als wichtige Produkte der Chemie und lenken die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der Geschlechterverhältnisse für die Chemikalienpolitik und das Chemikalienmanagement, d.h. auf die Anwendung der chemischen Erkenntnisse und noch kaum auf die Grundlagenforschung der Chemie.   

Auch wenn von einer systematischen Geschlechterforschung in der Chemie derzeit noch nicht auszugehen ist, bieten die folgenden Studien und Erkenntnisse gleichwohl exemplarische Hinweise auf die Bedeutung von Genderaspekten. Zu ihrer Systematisierung werden unterschiedliche Ansätze verwendet, mit Bezug auf Harding lassen sie sich einteilen in Beiträge zu "Women in Science (Chemistry)", „Science of Gender“ und "Gender in Science (Chemistry)" (Weller 2006, Weller 2012).

Women in Chemistry:

Im Vordergrund steht die Analyse der Situation von Frauen in der Chemie, wobei sich folgende Schwerpunkte unterscheiden lassen:

Ein Schwerpunkt befasst sich unter der Zielperspektive Chancengleichheit mit Analysen zur Partizipation von Frauen in den verschiedenen Feldern und Hierarchieebenen der Chemie. Eine der ersten Arbeiten, die die Situation von Chemikerinnen im Studium und im Beruf genauer untersucht hat, wurde bereits Ende der 1980er Jahre von Roloff durchgeführt (Roloff 1989). Inzwischen liegen zu dieser Frage eine Vielzahl von Daten vor, die eine anhaltende Diskrepanz zwischen Studium und Beruf bzw. wissenschaftlicher Professionalisierung zeigen: Der Frauenanteil der Studierenden lag nach Angaben des Statistischen Bundesamts 2016/2017 bei knapp 45%, wenn alle Chemiestudiengänge also auch Biochemie und Lebensmittelchemie, die einen überdurchschnittlichen Frauenanteil aufweisen, zusammen betrachtet werden. Demgegenüber betrug der Anteil an Chemieprofessorinnen in Deutschland 2015 nur 14.6% (GDCh 2016), auch die Schaltstellen der chemischen Industrie liegen weitgehend in der Hand von Männern, auf europäischer Ebene lag ihr Anteil 2016 bei 71.4% (Vorstandsebene) und 90% (Geschäftsführungsebene) (zitiert nach Hemmati/Bach 2017, S. 18).
Einen Erklärungsansatz für diese Situation bieten Untersuchungen und Fallstudien über den Zusammenhang zwischen Fachkultur und Habitus von Chemiker*innen. Diese haben z.B. herausgearbeitet, dass innerhalb der Diskurse der Chemie das Bild eines "erfolgreichen Chemikers" implizit mit Eigenschaften wie praktischem Geschick und Intuition verknüpft wird, die in diesem Kontext naturalisiert und männlich codiert werden (Nägele 1998). Eine aktuelle Analyse der Karrierebeschreibungen von Chemiker*innen in einer chemischen Fachzeitschrift bestätigt diese Ergebnisse. Demnach werden erfolgreiche Chemiker*innen als geschlechtsneutral konstruiert, implizit basieren die Karrierebeschreibungen allerdings auf männlichen Geschlechterkonstruktionen (Pascher-Kirsch/Jansen 2014).

Einen zweiten Schwerpunkt bilden Studien, die sich insbesondere in der Naturwissenschaftsgeschichte auf die Suche nach bislang unsichtbaren Frauen und ihrem Beitrag an der inhaltlichen Entwicklung der Wissenschaft Chemie machen. Im Mittelpunkt steht hier das Aufzeigen von bislang von der Geschichtsschreibung nicht oder nicht angemessen gewürdigten Chemikerinnen. Für diesen Bereich findet sich beispielsweise bei Bauer eine Übersicht über die nicht sehr zahlreichen Chemikerinnen, die in der Chemiegeschichte Erwähnung gefunden haben bzw. wie Clara Immerwahr in Form einer Biographie gewürdigt wurden (Bauer 2010).

Darüber hinaus ist in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung von Frauen als "unknown helpers" hinzuweisen, die wichtige Aufgaben z. B. bei der Durchführung von Experimenten übernommen haben, aber kaum Erwähnung finden (Löchel/Weller 1995, Bauer 2010).

Dazu kommen eher indirekte Beiträge von Frauen für die Weiterentwicklung der Chemie, die sich insbesondere auf die Vermittlung und Weiterverbreitung ihrer theoretischen und experimentellen Diskurse, d. h. auf ihre didaktische Aufarbeitung, erstrecken. Diese haben zur Ausbildung und Verbreitung chemischer Kompetenzen und damit indirekt auch zur Entwicklung der Chemie beigetragen (siehe z.B. Szász 1997, Wiemeler 2001).

Science of Gender:

Diese Analyseebene von Gender beschäftigt sich auf die Frage, inwieweit chemisches Wissen in die Konstruktionsprozesse von Gender einfließt.

So konnten für die Thermodynamik deutliche Zusammenhänge zwischen der naturwissenschaftlichen Kontroverse über atomistisch-mechanistische und energetische Naturauffassungen einerseits und dem geschlechterpolitischen Diskurs über das Frauenstudium und die Öffnung der Universitäten für Frauen andererseits aufgezeigt werden (Heinsohn 2005). Heinsohn arbeitete heraus, dass um 1900 die Ablehnung des Frauenstudiums mit physikalisch-chemischen Argumenten begründet wurde. Danach schade die geistige Arbeit von Frauen wegen ihres höheren Energieverbrauchs der Fortpflanzungsfähigkeit, weswegen das Frauenstudium als Energievergeudung zu betrachten sei.

Für den Chemieunterricht liegt zudem eine Untersuchung vor, die die (Re)Produktion von Geschlecht und Geschlechterdifferenzen untersucht und aufgezeigt hat, wie die Chemie im Unterricht als „männliche“ Wissenschaft konstruiert wird. Hierzu wurden u.a. Face-to-Face-Interaktionen sowie Unterrichtsmedien und Chemie-Foto-Stories analysiert und Konsequenzen für den Unterricht abgeleitet (Prechtl 2005).

Gender in Chemistry/Geschlecht in der Chemie:

Im Mittelpunkt steht die Frage, wie sich die Geschlechterverhältnisse inhaltlich in die Art der Fragestellungen, der Konzepte und in den gesellschaftlichen Umgang mit den Produkten der Chemie einschreiben.

Ein Ansatz dieser Analyseebene von Gender richtet sich auf die Frage, wie die Problemformulierungen und Problemlösungen der Chemie mit den geschlechtlich codierten Bereichen Produktion und Konsum umgehen und wie sie diese wahrnehmen. Der gesellschaftliche Stoffumgang wurde exemplarisch auf das ihn bestimmende Verhältnis zwischen weiblich gedachter Reproduktion, dem privaten Konsum und damit verknüpft der Nutzung von Stoffen, und dem männlich gedachten Bereich der Entwicklung, Gestaltung und Herstellung von Stoffen, untersucht (Weller 1995, Weller 2004). Die Ergebnisse zeigen, dass über die Nutzung von Stoffen und deren Verhalten – eingebunden in alltäglich verwendete Produkte – im Vergleich zu ihrer Herstellung deutlich weniger Wissen zur Verfügung steht. Dies ist auf das Problem der eingeschränkten Übertragbarkeit des Wissens über die Eigenschaften von Stoffen, die in chemischen Experimenten unter Laborbedingungen gewonnen wurden, auf das Verhalten dieser Stoffe in der realen Welt zurückzuführen. Für den Stoffumgang der Chemie lässt sich die Nutzung als eine Leerstelle kennzeichnen und insofern eine dekontextualisierte Problemsicht feststellen, die den gesellschaftlichen Handlungskontext des Umgangs mit Stoffen vielfach ausblendet. Diese Leerstelle lässt sich auch als Ausdruck der Geschlechterordnung verstehen, wonach der private Konsum, in dem die Nutzung und Anwendung von Produkten und der in ihnen eingesetzten Stoffe stattfindet, als weiblich codiert abgespaltet und abgewertet wird (Weller 1995, Weller 2004, Weller 2006).

In den letzten Jahren haben Genderanalysen im Kontext der Chemikalienpolitik vor dem Hintergrund Gender Mainstreaming deutlich an Bedeutung gewonnen. Dafür sind auch heute noch die Arbeiten relevant, die Anfang der 2000er Jahre die Chemikalienpolitik und Chemikaliensicherheit auf ihre Folgen für die Geschlechterverhältnisse untersuchten (Buchholz 2006). Sie zeigen, dass die Regelungen zur Chemikaliensicherheit und neue Entwicklungen der Chemikalienpolitik bislang kaum der Frage nach Differenzen zwischen den Geschlechtern in der Exposition und in den Folgen der Belastung mit Problemstoffen nachgehen, um diese z.B. bei der Festlegung von Grenzwerten zu berücksichtigen. Insofern verweisen diese Debatten und Studien auf problematische Grundannahmen über einen Durchschnittsmenschen, der implizit als männlich, gesund, jung, erwerbstätig und nicht schwanger gedacht wird. Dies bedeutet zum einen, dass die Lebenssituationen anderer gesellschaftlicher Gruppen, z.B. von Kindern, Frauen oder männlichen Kranken, nicht angemessen berücksichtigt werden. Und zum anderen, dass die Expositionssituationen, die sich nicht auf den beruflichen Kontext und die Erwerbsarbeit beziehen, ebenfalls nur am Rande in die Bewertung der Risiken von Stoffen einbezogen werden. Neuere Arbeiten bekräftigen einerseits, dass Geschlechterdifferenzen in der Exposition und Empfindlichkeit gegenüber Chemikalien sowie ihrer gesundheitlichen Wirkung noch unzureichend untersucht und berücksichtigt werden (Hemmati/Bach 2017). Andererseits liegen in der Zwischenzeit deutlich mehr Daten und Erkenntnisse z.B. über Geschlechterdifferenzen in der Exposition mit oder den gesundheitlichen Wirkungen von verschiedenen Chemikalien wie Schwermetallen oder persistenten organischen Schadstoffen (‚POPs‘) vor (UNDP 2011). Worauf die Differenzen zurückzuführen sind und welche Rolle dabei z.B. physiologische Prozesse, Verhaltensmuster oder die Wahrnehmung von chemikalienbedingten Gesundheitsrisiken und Akzeptanz von Präventions- und Schutzmaßnahmen spielen, ist allerdings noch kaum untersucht.

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Integration der Inhalte der Geschlechterforschung in das Curriculum:

Für die Integration der Inhalte der Geschlechterforschung in den Studiengang der Chemie sind folgende Möglichkeiten denkbar, die berücksichtigen, dass die Bedeutung der Kategorie Geschlecht für die Chemie bislang nicht im Studium thematisiert wird und daher zunächst "Ankerpunkte" gesucht werden müssen.

  1. Modulelement "Geschlechterforschung in der Chemie" in Wahlfächern wie "Philosophie der Naturwissenschaften" oder "Geschichte der Naturwissenschaften", die insbesondere auf die Bedeutung der Geschlechterverhältnisse für die inhaltliche Entwicklung der Chemie und auf die Beiträge von Frauen für die Chemie in historisch-bibliographischer Perspektive fokussieren.
  2. Modulelement "Geschlecht und Chemie" als Teil von Veranstaltungen, die sich mit Themenfeldern der Toxikologie und des Arbeitsschutzes befassen. In diesem Modul sollte der Schwerpunkt auf Gender in der Chemikalienpolitik und -sicherheit sowie auf androzentrischen Grundannahmen der Bewertung und deren Folgen für die Geschlechterverhältnisse liegen.
  3. Modulelement "Geschlechterverhältnisse in der Chemie" als Teil von Veranstaltungen, die in die Berufsfelder und die Berufspraxis von Chemiker*innen einführen. Schwerpunkt sollte hier die Auseinandersetzung mit Geschlechterungleichheiten mit Blick auf das Ziel Chancengleichheit in der Chemie sein.
  4. Modulelement "Geschlechterforschung in der Chemie" im Rahmen von Gender-Studies-Angeboten zu Geschlechterforschung in Naturwissenschaft und Technik, die nach den Gemeinsamkeiten und Besonderheiten der Chemie im Vergleich zu anderen naturwissenschaftlich-technischen Disziplinen fragen.

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Studienphase:

Die genannten Inhalte sollten in die grundständigen Studiengänge (Bachelor-Phase) insbesondere im fünften und sechsten Semester integriert werden. Sinnvoll wäre eine weitere Vertiefung in den sich anschließenden Masterstudiengängen.