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Gender Curriculum Rechtswissenschaften

Weiter relevant für: Rechtswissenschaft, juristische Ausbildungsgänge, Wirtschaftsrecht

Fach: Rechtswissenschaften, Wirtschaftsrecht
Fächergruppe/n: Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften

Lehrziele:

Die Studierenden sollen

  • die Grundfragen der nationalen und europäischen Geschlechterpolitik kennenlernen und diskutieren
  • Geschlechterkonstruktionen in den Rechtsgebieten und einzelnen rechtlichen Regelungen identifizieren
  • Defizite und Fehlentwicklungen der Gesetzgebung im Hinblick auf das Gebot der Geschlechtergerechtigkeit analysieren
  • sich mit geschlechterstereotypen Wahrnehmungen, Vorverständnissen und Vorurteilen in der Rechtsfindung, Rechtsanwendung und Rechtsprechung auseinandersetzen
  • Kenntnisse über die für typische Lebenskonstellationen und das Zusammenleben der Geschlechter wichtigen Rechtsvorschriften erlangen
  • sich mit den Möglichkeiten und Grenzen der „Equality Machinery”, staatlicher und überstaatlicher Institutionen und Mechanismen zur Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit befassen

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Lehrinhalte/fachspezifische Inhalte der Geschlechterforschung:

Recht ist in Deutschland traditionell Männerrecht gewesen, das die Lebensrealitäten einer patriarchal gedachten Gesellschaft erfasst hat. Bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts spielten Frauen als Rechtssubjekte keine oder eine untergeordnete Rolle. Bis heute ist die Rechtswissenschaft fest in Männerhand und es werden in der klassischen Lehre Genderaspekte negiert oder übersehen. Im letzten Jahrzehnt ist u. a. im Zuge einer Ausbildungsverkürzung die rechtsdogmatische Ausbildung in den Vordergrund getreten und ein deutlicher Hang zum Positivismus (eine Orientierung der Lehre am geltenden Recht und seiner Anwendung) festzustellen.
Die hier dargelegten Vorschläge zur Vermittlung von juristischer Geschlechterkompetenz folgen den Vorstellungen einer kritischen Rechtswissenschaft.
Die Darstellung orientiert sich an herkömmlichen Curricula. Im Zuge feministischer Wissenschaftskritik wäre eine grundlegende Curriculumrevision erforderlich, die zu einer anderen Strukturierung und Gewichtung der Studieninhalte führen würde. Abstrakt theoretische Gesetzesinterpretation würde zugunsten von praxisorientierter Wissens- und Anwendungsvermittlung in den Hintergrund treten. Damit wäre auch die Trennung von materiellem Recht und formalem Prozessrecht aufzuheben. Wichtig ist, die Rechtsdidaktik zu stärken und traditionelle Vorstellungen zu den Zielen des Jurastudiums und den Vermittlungsmethoden zu überdenken und letztlich umzudenken.


Grundlagenkenntnisse

Es ist in den Grundlagenfächern (Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie, Rechtsphilosophie, Rechtsökonomie u. a.) Grundlagenwissen zur Frauenrechtsgeschichte zu vermitteln:
Wie sich die Rechtsstellung der Frau über die Jahrhunderte entwickelt hat, welche gesellschaftlichen Vorstellungen und politischen Konstellationen den Regelungen zugrunde lagen, aufgrund welcher gesellschaftlichen Bewegungen und Ereignisse Wandel möglich war. Dies ist in den allgemeinen Kontext der Diskussion von Bedingungen gesellschaftlichen und rechtlichen Wandels zu stellen. Wichtige Stichworte zur Beurteilung der gesellschaftlichen Prozesse sind: Aufgabenteilung, ökonomische Bedingungen, (Verteilungs-)Gerechtigkeit, Recht-Unrecht, Gewalt, Macht, Exklusion, Diskriminierung, Anpassung, Abhängigkeit, Unterordnung, soziale Kontrolle, Körperkontrolle.
Dabei sind die sich ändernden gesellschaftlichen Wertesysteme darzustellen – auch unter Berücksichtigung sich wandelnder religiöser Vorstellungen – und im Lichte des heutigen ethisch-moralischen Gleichheits- und Gerechtigkeitsdiskurses zu reflektieren. Den Hintergrund dafür bilden die rechtlichen Rahmenwerke, die den aktuellen rechtspolitischen Handlungsspielraum abstecken: völkerrechtliche Konventionen, insbesondere CEDAW (UN Convention on the Elamination of Discrimination against Women), die europäischen Verträge, Grundgesetz, Gleichstellungsgesetze des Bundes und der Länder sowie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz AGG.

Rechtspolitisch ist der in den letzten drei Jahrzehnten vollzogene Wandel der Zielvorstellungen zur Geschlechtergerechtigkeit nachzuvollziehen, der einen Paradigmenwechsel von Rechtsgleichheit über Chancengleichheit zur Gleichstellung und zum Gender Mainstreaming gebracht hat.
In Ausweitung der dichotomischen Mann-Frau-Perspektive ist aufgrund der Anerkennung unterschiedlicher geschlechtlicher Identitäten und im Zuge des Diversity-Diskurses bzw. umfassender Antidiskriminierungskonzepte der Fokus auf das Individuum und seine Identität zu richten.
In diesem Zusammenhang sind Grundlagen der feministischen Theorie darzustellen.
In den Grundlagenfächern und später den einzelnen Rechtsgebieten ist die Rolle von Institutionen und AkteurInnen zu beleuchten: Bundesverfassungsgericht, Europäischer Gerichtshof, Europäischer Gerichtshof der Menschenrechte, Gesetzgeber (Europäische Kommission, Bundestag, Landtage) einerseits und AnwältInnen, RichterInnen, PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen andererseits.
Frauenrechtsgeschichte ist auch Juristinnengeschichte. Nur dem Jahrzehnte dauernden engagierten Einsatz einer begrenzten Zahl von kritischen Juristinnen ist eine allmähliche Anpassung des Rechts an die Erfordernisse einer modernen, auf Geschlechtergerechtigkeit ausgerichteten Gesellschaft zu verdanken. Dieser Kampf der Frauen um das Recht ist im Zusammenhang der ersten und zweiten Frauenbewegung darzustellen, ebenso wie die Institutionalisierungen der Frauenrechtsbewegung (Frauenrechtsberatungsstellen, Juristinnenbund, feministischer Juristinnentag).
Im Übrigen zeigt die historische und gegenwärtige berufliche Situation der Juristinnen exemplarisch Ansatzpunkte und Mechanismen beruflicher Benachteiligung von Frauen, die unter Anwendung professions- und organisationssoziologischer Erkenntnisse erläutert werden können. Dies ist ein auch aktuell wichtiges Thema, da mehr als 50 % der Jurastudierenden mittlerweile Frauen sind.
In den Grundlagenbereich gehört auch die Reflexion und Einübung einer geschlechtergerechten (geschlechterinkludierenden) Rechtssprache.


Geschlechteraspekte in den einzelnen Rechtsgebieten

Im Verfassungsrecht ist, wie es üblicherweise auch schon geschieht, ausführlich auf den Gleichberechtigungsgrundsatz und die Antidiskriminierungsregel (Art. 3 Abs. 2 und 3 GG) einzugehen und auf die Fähigkeit hinzuarbeiten, einzelne Regelungen und Regelungssysteme daran zu messen. Hier ist eine Grundkompetenz zu schaffen.
Entsprechend ist im Europarecht in Verbindung mit dem nationalen Arbeits- und Sozialrecht der europäische Wertehorizont einer europäischen Geschlechterordnung zu bearbeiten.
In den einzelnen Rechtsgebieten ist jeweils genauer auf die historische Entwicklung der Rechtsnormen im Hinblick auf Geschlechteraspekte einzugehen und ihre Gegenwartstauglichkeit zu hinterfragen. Dabei sind ideologische Hintergründe aufzuzeigen. Die Studierenden müssen lernen, die Fragen zu stellen, die Geschlechterrelevanz und -disparitäten von Regelungen aufzudecken oder zu klären helfen.
Dies sind insbesondere die Fragen:

  • Werden Frauen und Männer in gleicher Weise berücksichtigt?
  • Nutzt die Regelung Frauen und Männern in gleicher Weise?
  • Sind Frauen und Männer in gleicher Weise betroffen?
  • Wenn nicht: Lässt sich dies rational und/oder mit Geschlechterspezifika begründen? (z. B. im Strafrecht)

Dieses Vorgehen kann und sollte bei allen juristischen Ausbildungsgängen angewendet werden, also auch bei wirtschaftsrechtlichen, die üblicherweise Schwerpunkte im Arbeitsrecht, Handelsrecht, Gesellschaftsrecht, Wettbewerbsrecht, Wertpapierrecht, Bankrecht u. a. haben. Hier ist die Verbindung von feministischer, rechtlicher mit ökonomischer Analyse von besonderer Bedeutung.
Bei der Wahl der Beispiele und Beispielfälle ist darauf zu achten, dass sie nicht, wie es heute noch gang und gäbe ist, diskriminierend sind oder einseitig Vorstellungen von Geschlecht konstruieren.
Durch die Analyse geeigneter Urteile ist im Übrigen sowohl im Grundlagenbereich wie auch bei den einzelnen Fächern deutlich zu machen, wie geschlechterbedingtes Vorverständnis und Vorurteile Ergebnisse von juristischen Verfahren beeinflussen können.
Anhand von Ausschnitten aus Lehrbüchern, Aufsätzen und anderen juristischen Publikationen können Geschlechterprägungen im Fachdiskurs und die einseitige Konstruktion und Bewertung von Geschlecht in Fachliteratur verdeutlicht werden.


Strukturelle Kenntnisse und Praxisrelevanz

Da in der grundständigen JuristInnenausbildung die theoretische Vermittlung von Rechtsanwendungskompetenz im Vordergrund steht, trennt sie die einzelnen Rechtsgebiete und befasst sich üblicherweise mit dem Recht in den Büchern und nicht mit den in der Praxis besonders relevanten Rechtsgebieten. Dadurch gehen wichtige Fragestellungen verloren.
Für die Bearbeitung von Problemen der Geschlechtergerechtigkeit im Recht ist wichtig, Grundlagenkenntnisse auch in den Rechtsgebieten zu vermitteln, die in der klassischen JuristInnenausbildung nur in Wahlfachgruppen angeboten werden, bzw. Kenntnisse rechtlicher Regelungen, die generell im Hintergrund stehen, vernachlässigt werden oder schlicht „nicht vorkommen”, die aber zur rechtlichen Beurteilung des Geschlechterverhältnisses wichtig sind. Dies bezieht sich vor allem auf das Familienrecht, Sozialrecht und Steuerrecht. Außerdem ist wichtig, strukturelle Verbindungen herzustellen. So lässt sich z. B. nur in der Gesamtschau der Regelungen zu finanziellen Transferleistungen (Rentenrecht, Krankenversicherung, Arbeitslosengeld, Sozialleistungen) und der Ehegattenbesteuerung die finanzielle Abhängigkeit oder Schwächung von Frauen in Ehen und Partnerschaften systematisch erfassen und konstruktiv bearbeiten.
Daran lässt sich auch exemplarisch zeigen, wie Recht Geschlechterrollen konstruiert oder verfestigt.
Es ist zu diskutieren, wo und wie eine solche Lehreinheit am besten angebunden wird. In der Studieneingangsphase fehlt es den Studierenden an den Vorkenntnissen zur sinnvollen Rezeption der Inhalte. Sie würde am besten in eine Querschnittseinheit zur kritischen Rechtsbetrachtung für fortgeschrittene Studierende passen (zur Integration der Geschlechterinhalte in das Curriculum s. im Übrigen unten).

Geschlechteraspekte sind auch bei den Lehrveranstaltungen zur Vermittlung von Schlüsselkompetenzen zu berücksichtigen. Dabei ist z. B. auf Geschlechteraspekte bei der Rechtsdurchsetzung hinzuweisen (Wahrnehmung von Weiblichkeit und Männlichkeit bei Verfahrensbeteiligten, Rollenvorstellungen, Verhaltenserwartungen, Kommunikationsverhalten) und auf geschlechtsgeprägte Erwartungen an Gerechtigkeit, an die Rolle der Justiz bei Rechtsstreitigkeiten und außergerichtliche Streitschlichtung einzugehen.

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Integration der Inhalte der Geschlechterforschung in das Curriculum:

Der Geschlechteraspekt ist ein Querschnittsthema. Er sollte – wie beschrieben – ein Studienschwerpunkt in den Grundlagenfächern (Einführung in das Recht, Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie, Rechtsphilosophie und Methodenlehre) sein. Im Übrigen sollte die Geschlechterperspektive integraler Bestandteil aller Lehrveranstaltungen im Hinblick auf Gerechtigkeitsfragen und Rechtskritik sein. Dies gilt zuvorderst für Verfassungsrecht, Europarecht, Internationales Recht, Kriminologie, Familienrecht, Sozialrecht, Arbeitsrecht. In diesen Rechtsgebieten haben Genderaspekte eine besondere Relevanz. Eine spezifische Lehrveranstaltung zum Thema Frauen/Geschlecht und Recht findet in der klassischen JuristInnenausbildung erfahrungsgemäß wenig Akzeptanz. Sie wird gern als sektiererisch etikettiert. Eine solche Lehrveranstaltung beinhaltet auch die Gefahr, dass die selbstverständliche Berücksichtigung des Faktors Geschlecht in den üblichen juristischen dogmatischen Fächern vernachlässigt wird mit der Begründung, dass ihm durch die Sonderveranstaltung bereits Rechnung getragen sei. Soweit Geschlechteraspekte in der grundständigen Ausbildung hinreichend erfasst sind, kann auch darauf verzichtet werden. Als Wahl-(Pflicht-)Veranstaltung sollte eine solche Lehrveranstaltung dennoch angeboten werden. Insbesondere bei Bachelor und Master lässt sie sich gut in das Curriculum einbauen. So wird an der FernUniversität in Hagen im Master of Laws ein Gendermodul als Wahlpflichtfach mit Erfolg angeboten.

Die Frage ist allerdings, wie den Lehrenden die Kompetenz zur Behandlung der entsprechenden Fragestellungen und Themen vermittelt und ihre Bereitschaft, Genderaspekte in den Unterricht einzubeziehen, gefördert wird. Zur Ergänzung der Studieninhalte könnte – falls erforderlich – auf schriftlich oder online bereitgestellte Studienelemente anderer Institutionen zurückgegriffen werden.

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Studienphase:

Die Inhalte sind in jeder Studienphase relevant. In der Studieneingangsphase sollte in den Grundlagenfächern eine allgemeine fachbezogene Geschlechtersensibilität im Sinne der aufgeführten Lehrziele erarbeitet werden, im weiteren Verlauf des Studiums sind die besonderen Geschlechteraspekte in den jeweiligen Fächern zu behandeln.
Bei der Konkretisierung der Inhalte für die neuen Bachelor und Master im Recht ist generell auf eine Berücksichtigung der Genderaspekte in allen Fächern zu achten. Ebenso sind die Genderaspekte in die klassische Ausbildung zum ersten juristischen Staatsexamen in jedem Fach zu integrieren und im Hinblick auf die Rechtsanwendung auch in der ReferendarInnenausbildung zu berücksichtigen.