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Gender Curriculum Physik

Fach: Physik
Fächergruppe/n: Mathematik und Naturwissenschaften

Lehrziele:

Studierende kennen die fundamentalen theoretischen Grundlagen, empirischen Erkenntnisse und methodischen Konzepte der Frauen- und Geschlechterforschung bezogen auf die Physik. Die Studierenden können damit die Bedeutung der Kategorie Geschlecht für die Physik selbständig entwickeln und bewerten. Sie sind in der Lage, ihr Wissen zum geschlechtergerechten Handeln in der Physik in den entsprechenden interdisziplinären Feldern anzuwenden. Zusätzlich können die Studierenden fachbezogen argumentieren und im Team Verantwortung übernehmen.

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Lehrinhalte/fachspezifische Inhalte der Geschlechterforschung:

Im Mittelpunkt der Arbeiten der Frauen- und Geschlechterforschung bezogen auf die Physik steht die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen den gesellschaftlichen Geschlechterverhältnissen und dem physikalischen Fach- und Methodenwissen.
Die (männlich-patriarchale) physikalische Wissenschaft zeigt Mängel der Selbstreflexion, indem sie den Gegenstand verabsolutiert, einen sinnlichen Kontakt zwischen forschendem Subjekt und Gegenstand verliert und Physik als Herrschaftswissen instrumentalisiert. Als Folge tritt der Oppenheimer-Effekt ein: Robert Oppenheimer will nicht gemerkt haben, dass er die Atombombe produziert hat, weil das Produkt sich verselbständigt habe. Außerdem überbewertet die Physik so den intellektuellen und durchsetzungsstarken Teil der Studierenden wie der Lehrenden, statt die gesamte Persönlichkeit einzubeziehen. Die Physik sollte nicht nur ein Hort der intellektuellen Erkenntnis sein, sondern zugleich auch des Lebens, der Erfahrungen und des Handelns entsprechend dem dictum Werner Heisenbergs: „Wissenschaft wird von Menschen gemacht.“ Auf diese Weise können sich physikalisches Objekt und forschendes Subjekt annähern, bis der Funken überspringen kann.
Diesen Herausforderungen geht die Frauen- und Geschlechterforschung in der Physik in Wissenschaftsgeschichte, in empirischer Forschung und in der Praxis nach. Neben der Frage nach der Beteiligung von Frauen in der Physik/Wissenschaft (Women in Science), stehen Fragen nach möglichen Konsequenzen für die Wahl und Darstellung der physikalischen Gegenstände, Methoden und Zielperspektiven bis hin zu den grundsätzlichen Fragen nach Objektivität, Wertfreiheit und Geltung physikalischen/naturwissenschaftlichen Wissens (Gender in Science) zur Debatte.


Im Bereich der (Natur-)Wissenschaftsgeschichte:


Die Naturwissenschaft ist jenes Wissensgebiet, das die Natur und den Kosmos in den Fokus nimmt; die Physik im Besonderen beschäftigt sich mit dem Verhalten der unbelebten Materie. Sie versucht, die vielfältigen Phänomene auf wenige Grundgesetze und Naturbausteine zurückzuführen. Dieses Wissen ist das Ergebnis eines langwierigen Prozesses des Spekulierens, Experimentierens und Entdeckens über Jahrhunderte hinweg. Physik wird dabei häufig als eine Sache von Männern betrachtet, obwohl Frauen darin stets eine wesentliche Rolle gespielt haben: in vorgeschichtlicher Zeit als erste Erfinderinnen – auch Sammlerinnen und Heilerinnen – und heutzutage als Physik-Professorinnen oder gar Nobelpreisträgerinnen. Je wichtiger physikalisches Arbeiten in der Gesellschaft wurde, desto systematischer wurden allerdings Entdeckungen von Physikerinnen abgewertet, behindert oder gar Männern zugeschrieben.

  • In der Antike waren Frauen ebenso wie Männer wissenschaftlich tätig; 17 Pythagoräerinnen sind belegt. Paradigmatisch sei Hypathia von Alexandria erwähnt, die als Astronomin geforscht hat.
  • Im Mittelalter versuchten Frauen Naturwissenschaft und Theologie zu verbinden; hierfür steht zum Beispiel die Person Hildegards von Bingen.
  • In der Neuzeit entsteht im 17. Jahrhundert ein neues Weltbild der Physik, es wird populär, sich mit Physik zu beschäftigen – auch für Frauen, mit der Einschränkung, dass dies oberflächlicher Zeitvertreib bleibt. Bedeutende Physikerinnen sind Laura Bassi in Italien und Emilie du Chatelet in Frankreich ("Sie war ein großer Mann, dessen einziger Fehler es war, eine Frau zu sein." Voltaire zugeschrieben). Im Prozess der Professionalisierung eignen sich Männer zunehmend ihr Wissen an, Physikerinnen werden eher verleugnet. Auffällig sind Astronominnen, die mit Geduld und Ausdauer ihre kosmologischen Interessen verfolgen, häufig im Tandem mit dem Bruder (wie Karoline Herschel) oder Ehemann (wie Maria Cunitz).
  • In der Moderne publizieren Physikerinnen im 19. Jahrhundert noch unter männlichem Pseudonym, im 20. Jahrhundert können sie sich davon befreien. Ihr Anteil bei öffentlichen Würdigungen wie Auszeichnungen oder Preisen bleibt sehr gering. Gerade in Deutschland ist der Anteil von Physikerinnen an Professuren und Gremien unterdurchschnittlich im internationalen Vergleich.

Im Bereich der (empirischen) Forschung sind umfangreiche Arbeiten zu nennen.

Diese beziehen sich insbesondere auf:

  • Geschlechtervorstellungen in physikalischem Wissen
  • geschlechtergerechten physikalischen Unterricht
  • geschlechtergerechtes Physik-Studium
  • geschlechtergerechte Berufsorientierung,

wobei hier zunehmend das Zusammenwirken (Intersektionalität) von Geschlecht mit anderen sozialen Differenzierungen (wie Klasse/Schicht, Ethnie, Herkunft, Hautfarbe, sexuelle Orientierung, Alter usw.) einbezogen wird.

Sehr vielfältig sind die auf die physikalische Praxis bezogenen Beiträge der Frauen- und Geschlechterforschung. In diesen werden geschlechterdifferente Auswirkungen auch vor dem Hintergrund von Konzepten wie dem diversity management analysiert und auf der Grundlage dieser Analyse konkrete Vorschläge für neue Ansätze entwickelt. Diese wollen so zur Aufhebung hierarchischer Geschlechterverhältnisse beitragen.
Weitere praxisbezogene Arbeiten beziehen sich auf das physikalische Handeln und dessen (Um-)Gestaltung durch die Integration geschlechtergerechter (den Geschlechterbias überwindender) Partizipationsmodelle.
Ein dritter Themenbereich der praxisbezogenen Arbeiten bezieht sich auf die Berufspraxis von Physikerinnen und Physikern, in dem Geschlechterdifferenzen nachgegangen sowie der Beitrag von Frauen zur Entwicklung der Physik thematisiert wird. Hieraus können sich Hinweise auf die fachliche Schwerpunktsetzung im Studium ergeben (indem Arbeitsfelder, die für Frauen in der Berufspraxis besonders relevant sind, ein höheres Gewicht bekommen).
Die vorgenannten Themenstellungen sind nicht als abgeschlossener Wissenskanon zu verstehen, sondern als Hinweise auf das breite Themenspektrum der physikbezogenen Frauen- und Geschlechterforschung, die in einem lebhaften wissenschaftlichen Diskurs erweitert und verändert wird. Aktuelle Diskussionen beziehen sich insbesondere auf die Frage der Differenzen zwischen Frauen (und Männern) bzw. der Intersektionalität unterschiedlicher sozialer Differenzierungen sowie auf die Frage nach der Bedeutung sozialer Konstruktionsprozesse von Geschlecht, die keine einfachen Antworten auf die Frage nach einer geschlechtergerechten Physik (mehr) möglich machen. Umso mehr ist jedoch die Einbeziehung sozialer Differenzierungen und gesellschaftlicher Hierarchisierungen in die Physik unumgänglich.

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Integration der Inhalte der Geschlechterforschung in das Curriculum:

Grundsätzlich ist der Geschlechteraspekt ein Querschnittsthema. Die vorgenannten Kompetenzen sollten also idealiter in die verschiedenen fachlichen Module integriert werden. Dies ist unter den derzeitigen Bedingungen der fachlichen Orientierungen allerdings nicht in allen Fällen zu erwarten.
Soweit die Integration der Inhalte der Frauen- und Geschlechterforschung in der Physik nicht in alle Module gesichert werden kann, empfiehlt sich das Angebot eines "Gender- Moduls" bzw. von Modulelementen. In Zeiten der Digitalisierung sind hier verstärkt online Materialien, insbesondere Open Educational Resources, interessant.

Solche Modulelemente könnten sein:

  1. Modulelement "Physikerinnen in der Geschichte der Physik" mit den wissenschafts-historischen Grundlagen der Frauenforschung in der Physik.
  2. Modulelement "Wissenschaftspaare in der Physik" mit den wissenschaftshistorischen Grundlagen der Geschlechterforschung in der Physik.
  3. Modulelement "Wissenschaftskritik in der Physik" mit feministischer Kritik der Natur- und Technikwissenschaften.
  4. Ein oder mehrere Modulelemente "Geschlechtergerechte Physik" (z. B. Schülerinnen und Physik, Gendersensitive Berufsorientierung in der Physik usw.), in denen die empirischen Befunde der Frauen- und Geschlechterforschung dargestellt und darauf aufbauende "geschlechtergerechte" Konzepte vorgestellt werden.

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Studienphase:

Die vorgenannten Inhalte sollten in die grundständigen Studiengänge (Bachelor-Phase) integriert werden. Das erste Modulelement ist ab dem zweiten oder dritten Semester sinnvoll, die weiteren in späteren Semestern. Sehr sinnvoll scheint darüber hinaus eine Vertiefung in Masterstudiengängen.

Neben den Inhalten und dem Wissen bieten darüberhinausgehende Kompetenzen des Könnens und Handelns weitere Anknüpfungsmöglichkeiten. Denn kompetenzorientiertes Lernen, Lehren und Prüfen bietet Chancen für geschlechtergerechte Physik, da es genuin die Belange aller Studierenden in den Mittelpunkt stellt und nicht normativ handelt. Entsprechend dem Constructive Alignment geht es von den Lernzielen aus und wählt dazu geeignete Lehr- und Lernszenarien bzw. Prüfungen. Kompetenzorientierung will zu stärkerer Selbstreflexion und Selbstverantwortung bei den Studierenden anleiten und einen Rollenwechsel bei den Lehrenden von Wissensvermittelnden zu Lernbegleitenden fördern. Durch aktivierende und kontextorientierte Lernszenarien können Studierende ihre Kompetenzen in der geschlechtergerechten Physik stärker individuell ausbauen und in teamorientierten Projekten durch Kommunikation und Interaktion mit anderen auch auf interdisziplinäre Themenfelder wie die oben genannten übertragen.