nach oben
Lehrinhalte/fachspezifische Inhalte der Geschlechterforschung:
Frauen- und Geschlechterforschung in der Philosophie analysiert theoretische Artikulationen von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen und befasst sich mit der Entwicklung von Denkformen und Begriffen, die es ermöglichen, Dominanzverhältnisse zu benennen und zu verändern. Zentral ist dabei die Analyse und Überwindung eines „falschen Universalismus”, d. h. von neutral erscheinenden Allgemeinbegriffen, die jedoch implizit durch einen Geschlechterbias geprägt sind. Philosophische Frauen- und Geschlechterforschung geht von einem komplexen Zusammenwirken von gesellschaftlichen Strukturen, Philosophie und anderen Wissensformen aus und begreift philosophische Begriffsarbeit als „situiert”. Sie reflektiert daher immer wieder auch die disziplinären Grenzen des Faches „Philosophie” und setzt sich kritisch mit epistemischen Strategien der Exklusion von Inhalten und Denkstilen auseinander.
Die Aufgaben der Rekonstruktion, Kritik und konzeptionellen Innovation von Begriffen und Theorien unternimmt Frauen- und Geschlechterforschung in allen systematischen Teilbereichen der Theoretischen und Praktischen Philosophie.
Im Bereich der Theoretischen Philosophie sind vor allem folgende Beiträge zu nennen:
Metaphysik und Ontologie
- Forschungen zur geschlechtlichen Artikulation und hierarchischen Anordnung grundlegender begrifflicher Gegensätze wie Sein/Nichtsein, Natur/Kultur, Körper/Geist. Hier geht es zum einen darum, die gesellschaftlich-kulturellen Zusammenhänge, die in metaphysische bzw. ontologische Prinzipien „eingeschrieben” sind, herauszuarbeiten und zu benennen. Zum anderen geht es darum, zu begreifen, wie Geschlechterkonstruktionen Denken strukturieren und darüber gesellschaftliche Geschlechterordnungen stabilisieren oder zu ihrer Veränderung beitragen.
- Philosophische Konzeptionen, die im Kontext metaphysischen Denkens die Allianzen feministischer Philosophie mit anderen Formen der modernen Metaphysikkritik (Marx, Nietzsche, Freud, Poststrukturalismus, Diskursethik) ausloten. Hier geht es darum, trotz des Geschlechterbias und einer unterkomplexen Begrifflichkeit in Bezug auf Geschlecht und Geschlechterverhältnisse, die so gut wie alle philosophischen Konzeptionen des Mainstreams kennzeichnet, Ansatzpunkte für die Entwicklung der eigenen Theoriebildung zu finden.
- Philosophische Arbeiten, die sich mit den in feministischen Theorien implizit oder explizit formulierten Ontologien und metaphysischen Grundannahmen auseinandersetzen. Hierzu gehören insbesondere Arbeiten zum Begriff der Materie und zum ‚material turn‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften.
- Arbeiten im Bereich der Analytischen Feministischen Philosophie
Wissenschafts- und Erkenntnistheorie
- Forschungen und Analysen zum Androzentrismus in Konzeptionen von Rationalität und Wissenschaft. Konzeptionen von Wissenschaft und Rationalität werden daraufhin untersucht, inwieweit sie von androzentrischen Vorannahmen über das Erkenntnissubjekt und Erkenntnisinteressen ausgehen. Analysiert wird die Vergeschlechtlichung menschlicher Erkenntnisvermögen, z. B. durch den Gegensatz Vernunft/Gefühl. Gegen die Annahme von neutraler Objektivität wird aus unterschiedlichen methodischen Zugängen heraus (u. a. Psychoanalyse, Kritische Theorie, Poststrukturalismus) das Verhältnis von Wissen und Macht analysiert.
- In kritischer Auseinandersetzung sowohl mit positivistischen als auch kulturalistisch-relativistischen Ansätze in der Wissenschaftstheorie befasst sich Geschlechterforschung in der Philosophie intensiv mit Fragen der Erkenntnistheorie. Zu nennen sind hier die Standpunkttheorie, das Konzept des „situierten Wissens” sowie Ansätze im Anschluss an die Historische Epistemologie und die Social Studies of Science. Es geht dabei insbesondere um eine Reformulierung des Konzepts von Objektivität, die es erlaubt, die unterschiedlichen Perspektiven von Frauen und anderen „Anderen” zu Wissen und Wissensproduktion einzubeziehen, ohne die Möglichkeit, Wahrheitsansprüche zu formulieren, aufzugeben. Zentral sind dabei Theorien über epistemische Ignoranz und epistemologische Ungerechtigkeit. In diesem Zusammenhang und darüber hinaus widmet sich eine Reihe von Forschungen er erkenntnisleitenden Bedeutung von Gefühlen bzw. Emotionen und Affekten.
Im Bereich der Praktischen Philosophie sind vor allem folgende Beiträge zu nennen:
Politische Philosophie/Sozialphilosophie
- Forschungen, die die Geschlechterkonzeptionen und androzentrischen Grundannahmen in philosophischen Theorien über Staat und Gesellschaft, Ehe, Familie, Generativität und Erziehung in allen Epochen der Philosophiegeschichte von der Antike bis zur Gegenwart aufarbeiten. Hier geht es sowohl um den Aufweis von historischen Veränderungen in den Geschlechterordnungen und -symbolisierungen als auch um die Analyse von Kontinuitäten. Von zentraler Bedeutung sind hier Analysen zum Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit, zur Theorie des Staates, der Demokratie, des Politischen sowie zu den Begriffen Macht und Herrschaft.
- In der aktuellen, zeitgenössischen Sozialphilosophie sind insbesondere die Debatten um Gleichheit und Gerechtigkeit sowie um Identität, Differenz und Anerkennung von der feministischen Philosophie angestoßen worden. Es geht um die Frage, wie soziale, ökonomische, rechtliche und kulturelle Faktoren zusammenwirken bzw. wirken sollten, um eine plurale, geschlechtergerechte Gesellschaft zu befördern. Dabei werden Themen wie Gleichheit/Ungleichheit und Gerechtigkeit, Globalisierung, Kolonialität/Postkolonialität und kulturelle Identität einbezogen. Das Thema Ökologie/Naturverhältnisse spielt eine zunehmend wichtige Rolle. Grundlegende Impulse für die Bearbeitung dieser und anderer Themen gehen von Theorien der Intersektionalität aus, die darauf zielen, die Verflechtung unterschiedlicher Machtverhältnisse und sozialer Hierarchisierungsprinzipien zu begreifen.
Moralphilosophie/Ethik
- Feministische Ethikkonzeptionen sind zunächst als Alternative zu universalistischen Auffassungen von Recht und Gerechtigkeit, die vom autonomen Subjekt der Vertragstheorie ausgehen, formuliert worden. Vor allem der Entwurf einer „Fürsorgeethik”, die sich an weiblichen Lebenserfahrungen und Kompetenzen wie soziale Bindungsfähigkeit, kontextsensitives Denken und Emotionalität orientiert, hat zu einer reichhaltigen philosophischen Debatte um die Möglichkeit einer „weiblichen Moral” und um das Verhältnis von Universalismus und Relativismus geführt. Darüber hinaus gibt es eine Vielfalt an theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Begriff der Autonomie sowie mit Konzepten von Relationalität, Abhängigkeit und Verletzlichkeit. In jüngster Zeit findet zudem eine intensive Auseinandersetzung mit dem Begriff der Sorge im Sinne von Lebenssorge und mit Blick auf Sorgearbeit statt.
- Feministische Bioethik setzt sich kritisch mit der Geschlechtsblindheit der Mainstream-Bioethik auseinander und formuliert vielfach Vorschläge für einen intersektionalen Zugang zu den Problemen der angewandten Ethik. Darüber hinaus sind Forschungen an der Schnittstelle von Technikphilosophie und Ethik zu nennen, die sich als unterschiedlichen Theorieströmungen wie Poststrukturalismus, Phänomenologie und philosophischer Anthropologie zugehörig verstehen.
Philosophische Anthropologie
- Forschungen, die den „falschen Universalismus”, d. h. den impliziten Androzentrismus, von neutral erscheinenden Allgemeinbegriffen wie „der Mensch”, „das Subjekt”, „die Vernunft” in philosophischen Konzeptionen aller Epochen kritisch rekonstruieren. In diesem Zusammenhang ist eine Vielfalt an Methoden der Textanalyse entwickelt worden, die es erlaubt, über explizite Geschlechterkonstruktionen hinaus implizite Bedeutungsstrukturen von Texten und Diskursen zu analysieren.
- Die Frage „Was ist der Mensch?” wird in der feministischen Philosophie in die Frage „Was ist Geschlecht?” übersetzt. Dabei werden Konzeptionen von Körper, Sexualität, Identität insbesondere aus existenzialistischer, psychoanalytischer, phänomenologischer und poststrukturalistischer Perspektive diskutiert. Ohne auf „essentialistische”, allen Frauen ein gemeinsames „Wesen” unterstellende Begrifflichkeiten zurückzugreifen, geht es darum, verallgemeinerbare Aussagen über die Bedingungen und Dimensionen von Handlungsfähigkeit zu formulieren. Dabei spielen poststrukturalistische bzw. konstruktivistische Ansätze ebenso eine Rolle wie leibphänomenologische Ansätze. Im Zuge der Debatten um den Posthumanismus werden in jüngster Zeit zudem verstärkt die Grenzziehungen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Lebewesen sowie Menschen und Dingen bzw. Artefakten analysiert. In diesem Zusammenhang findet eine intensive Auseinandersetzung mit den Begriffen ‚Natur‘ und ‚Leben‘ statt.
Geschichte der Philosophie
- Die Geschichte der Philosophie ist durch die Wiederentdeckung „vergessener” bzw. unsichtbar gemachter Philosophinnen in der gesamten europäisch-abendländischen Philosophiegeschichte bereichert worden. Neben einer Reihe von Neu-Editionen sind hier auch entsprechende Nachschlagewerke entstanden. Darüber hinaus geht es darum, Spuren von Geschlechterkonflikten auch in Texten, die dies nicht explizit zum Thema machen, zu rekonstruieren. Beide Strategien schließen eine Reflexion über die Konstruiertheit von „Geschichte” und „Philosophie” ein und zielen auf eine Neubewertung marginalisierter Denkformen.
Das wissenschaftliche Feld der Geschlechterforschung in der Philosophie ist äußerst dynamisch. Auch wenn in den vergangenen 40 Jahren ein umfangreiches Wissen in den unterschiedlichen Gebieten der Philosophie erarbeitet worden ist und einige Autorinnen den Status von „Klassikerinnen” erlangt haben (insbesondere: Simone de Beauvoir, Luce Irigaray, Judith Butler), ist das Feld immer wieder von Veränderungen und neuen Entwicklungen geprägt. Diese ergeben sich zum einen aus der Dynamik der internationalen Debatten der Geschlechterforschung. Zum Großteil resultieren sie aber auch aus der kritischen Auseinandersetzung mit neuen gesellschaftlichen und wissenschaftlich-technologischen Herausforderungen. So sind in den vergangenen Jahren Techno- und Biowissenschaften, Ökologie, sowie die Bedeutung von Globalisierungsprozessen und Probleme der Post/Kolonialität zentral geworden.